CRPG-Archiv: Dungeon Master

Sothi | 24. September 2016 | 20:36
Dungeon Master
















Jahrhundertspiele. Es gibt sie. Woher ich das weiß? Ich bin einem begegnet.
Es muss 1988 gewesen sein. Als ich das Wohnzimmer meines Onkels betrat, flackerte auf dem Monitor seines Atari STs ein eigenartiges Spiel. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen oder gehört. Die Fußstapfen der monströsen Gestalten, die durch engen, grauen Gänge schlurften. Das sich dem Ende neigende Fackellicht, das die Umgebung spärlich erhellte. Der imposante Feuerball, der sich unaufhaltsam seinen Weg bahnte und mit lautem Krachen auf das Ziel prallte. Alles wirkte so unglaublich echt. Und so unbeschreiblich weit entfernt von allem, das ich bislang mit dem Begriff Rollenspiel verband. Das Spiel, das mein Verständnis für Computerspiele völlig neu definierte, hörte auf den generischen Namen Dungeon Master. Die Entwickler, die dieses Phänomen möglich machten, firmierten unter FTL Games.

Warum FTL Games ausgerechnet auf dem Atari ST ihr Glück versuchten, ist heute leider nicht mehr überliefert. Dass der Titel dort mehr als ein voller Erfolg war, ist allerdings unbestreitbar: Schätzungen zufolge sollen mehr als 50% aller ST-Besitzer eine legale Kopie von Dungeon Master erworben haben, womit der Titel damit zum erfolgreichsten Atari ST-Spiel aller Zeiten avancierte. Die Amiga-Version, die ein Jahr später erschien, benötige zwingend eine Speichererweiterung auf 1 Megabyte, was Hardwarehersteller dazu veranlasste, ihre Rambausteine mit Dungeon Master zu bundeln. Und dazu war das Spiel bei den Kritikern nicht minder beliebt: Der Dungeon Crawler räumte zum Release nahezu jeden relevanten Preis ab. Die Aufzählung aller Awards dürfte eine Din A4-Seite füllen.

Von Crystal Dragon zu Dungeon Master

Dabei war es einem Zufall zu verdanken, dass Dungeon Master überhaupt das Licht der Welt erblickte. Begonnen als in Pascal geschriebener Prototyp namens Crystal Dragon, brachten die jungen Entwickler und Künstler Doug Bell und Andy Jaros ihr Kleinod zu einer eher unbekannten Softwareschmiede namens FTL Games. Der Feinschliff, der dort betrieben wurde, veredelte das Spiel zu einem Juwel und schuf eine Art Subsubgenre: Denn das, was bislang als Dungeon Crawler bekannt war, war nicht annähernd mit der Immersion und der Echtzeitmechanik vergleichbar, die Dungeon Master lieferte. Heute weiß man: Nahezu alle Echtzeitrollenspiele in Egoperspektive wurzeln in der einen oder anderen Art auf FTLs Ausnahmetitel.

Die auf 18 Seiten erzählten Vorgeschichte verspricht storytechnisch mehr, als das Spiel später erfüllen kann und ist vielleicht dessen größter Schwachpunkt. Andererseits weiß man nicht, ob ein Spiel wie Dungeon Master mit starken Storyelementen überhaupt funktioniert hätte. Der Grey Lord, ein gütiger Magier von unglaublicher Macht, erleidet bei einem Experiment mit einem mächtigen Artefakt eine Art schizophrenes Trauma: Er spaltet sich in zwei Hälften -- in ein gutes Ich namens Lord Librasulus und in das böse Gegenstück Lord Chaos. Mit in Leidenschaft gezogen wird dabei sein Schüler Theron, der nun körperlos umherirrt und versuchen muss, Lord Chaos zu vernichten, der sich mittlerweile in der untersten Ebene im Berg der Macht eingenistet hat.

Das Spiel geht von der Prämisse aus, dass bereits unzählige Helden versucht haben, Lord Chaos dingfest zu machen. 24 der stärksten Recken Helden hängen in der ersten Ebene, der Hall of Champions, als Portrait aus. Theron hat, und das ist sein Vorteil als Geist, nun die Möglichkeit, maximal vier dieser Helden zu reinkanieren und mit dieser Gruppe gegen Lord Chaos zu Felde zu ziehen.

Immersion aus einer anderen Welt

Das Spiel führt uns dabei in immer tiefere Tiefen des Kaninchenbaus. Meist verbunden über Treppen, aber auch gerne mal überraschend über Falltüren oder Bodeneinlassungen kennt das Spiel dabei stets nur eine Richtung: Weiter nach unten. Der Schwierigkeitsgrad steigt dabei sanft, aber stetig an: Haben wir es in den ersten Ebenen noch mit harmlosen Mumien und Pilzwesen zu tun, erwarten uns in späteren Abschnitten Steingolems oder sogar ein waschechter Drache. Interessant ist hierbei die KI der Monstren: Wird ein Kampf zu brenzlig, kann es schon mal sein, dass der Gegner die Beine in die Hand nimmt und flieht. Noch weitaus interessanter ist hingegen die Tatsache, dass man jedes Monster bereits aus der Entfernung erkennt und auf einen zulaufen sieht. Konkurrenten wie Bard’s Tale 2, Wizardry 4 oder Might and Magic I, die im selben Jahr erscheinen, können von einer solchen Mechanik nur träumen.

Das Spiel funktioniert in Echtzeit. Mehr noch: Es ist voll mausgesteuert und komplett interaktiv mit seiner Umgebung: Gegenstände können aufgehoben, geworfen, fallen gelassen oder einfach angezogen werden. Schalter und Hebel sind ebenso manipulierbar, wie etwa Fackelhalter, deren Inhalt entweder entwendet oder bestückt werden kann. Wer dürstet, kann seinen Wasserschlauch an einer der seltenen Wasserquellen füllen. Fackeln ist ohnehin ein gutes Stichwort, besitzt das Spiel doch ein imposantes Lichtsystem, das mehrere Stufen kennt: Brennt eine Fackel langsam ab, wird es um uns herum düsterer. Wohl dem, der bereits den Lichtzauber gefunden hat.

Das Magiesystem als Baukasten

Magie funktioniert sehr intuitiv und immersiv über ein Baukastenmenü. Zuerst muss der Spruch überhaupt gefunden und (wortwörtlich) verinnerlicht werden. Danach wird die Spruchstufe ausgewählt, gefolgt von der eigentlich Spruchkombination. Das alles in Echtzeit, die natürlich in der Hektik eines Gefechts besonders schwerwiegend zum Tragen kommt, dafür das Mittendrin-Gefühl zusätzlich stärkt.

Welche Spruchstärken wir in der Lage sind überhaupt auszusprechen, hängt von unserer Klassenstufe ab: Dungeon Master bietet vier Klassen, die in verschiedene Stufen unterteilt sind. Ein Novice Wizard ist etwa weit weniger mächtig als ein Journeyman Wizard. Aufgestuft wird über ein Praxis-Skill-System, soll heißen: Wer fleißig Feuerball übt, steigt schnell in den Wizardstufen auf. Wer öfter mal einen Ninja-Stern nach seinen Gegner schmeißt, wird irgendwann zum Meister Ninja. Tränkebrauer hingegen erklimmen Priester-Stufen. Da theoretisch jeder Charakter an Mana kommen kann, gibt es keine festen Levelgrenzen: Wer fleissig genug übt kann in jeder Klasse alle Stufen erklimmen. Dass sich die Helden am Ende dennoch stark unterscheiden, hängt an den Attributs- und Charakterwerten.

Ebenfalls wegweisend und Blaupause für spätere Dungeon Master-Klone sind die Puzzles, Fallen und Rätsel. Wer Eye of the Beholder oder etwa Legend of Grimrock gespielt hat, wird über all jene Puzzle stolpern, die Dungeon Master Jahre zuvor etabliert hat. Ganz klassisch etwa die Bodendruckplatte, die beim Beschweren ein Fallgitter öffnet oder eine Fallgrube schließt. Einiges davon, wie etwas Dreh- und Teleporterfelder hat sich das FTL-Spiel allerdings von Dungeon Crawlern der vorherigen Generation entliehen: Wizardry und Bard’s Tale.

Würde man eine Liste führen wollen mit all jenen Features, die Dungeon Master in das Genre eingeführt hat, könnte man den Artikel problemlos in der Seitenzahl verfielfältigen. Wenn ich etwa aus Spaß heraus den Knopf eines Fallgitters bediene und dabei merke: Huch, das Ding knallt ja so richtig schön auf den Schädel des vor mir stehenden Monsters. Oder ein Zauberspruch mich in Echtzeit durch Wände sehen lässt. Oder Verletzungen an Bein und Arme dazu führen, dass ich langsamer laufe und meine Waffe nicht mehr halten kann. Oder ein fälschlich gegen die Wand geschleuderter Zauberspruch meine halbe Gruppe zerbratzt -- dann darf man von echter Immersion sprechen. Zumindest so echt, wie man es von einem Spiel im Jahre 87 überhaupt nur erwarten darf.

Bemängelswertes

Möchte man an Dungeon Master etwas bemängeln, so dürften es sicherlich fehlende NPCs oder das Weglassen jeglicher Ausrüstungswerte sein, was das Abwägen der Nützlichkeit und das Ausrüsten der eigenen Helden erschwert. Auch dass sich vieles um das Problem Tragekapazität dreht, ist eher nervig als Spielspaßfördernd und zu guter Letzt: Ja, es gibt mit Dungeons of Daggorath ein Spiel, das einige Elemente aus Dungeon Master schon Jahre zuvor vorwegnimmt -- allen voran die Echtzeitkomponente. Aber mal ehrlich: Die Welten, die zwischen diesen beiden Titeln liegen, sprengen jede Art von Maßstab.

FTL Games brachte kurze Zeit nach Dungeon Master eine autark lauffähige Erweiterung namens Chaos Strikes Back heraus, die auf der gleichen Engine fußte. Auf einen echten Nachfolger mussten die Fans allerdings viele Jahre warten, nur um nach dessen Release das Ende der Entwickler zu erleben. FTL machte seinem Namen leider keine Ehre und wurde links und rechts von Konkurrenten eingeholt, die mit Dungeon Master als Vorlage das Genre weiterentwickelten. Zu dieser Zeit wirkte Dungeon Master 2 schon fast anachronistisch.


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